Obwohl der Gentleman Bertram Wilberforce Wooster das Eton College und anschließend das Magdalen College in Oxford besucht hat, und er sich brüstet, früher sogar einen Preis für seine Bibelstudien gewonnen zu haben, besteht seine Bildung scheinbar vor allem im Geschick, Polizeihelme zu stehlen. Er liest manchmal Kriminalromane und gelegentlich Ratgeber – »Die vergiftete Nadel« oder »Mit Flinte und Fotoapparat durch das unberührte Borneo«, um nur zwei Titel zu nennen –, aber diese Lektüre ist einigen seiner Verehrerinnen zu trivial. Sie drücken ihm statt dessen Bücher wie »Typologie der Ethik« in die Hand, die Bertie Wooster nach Augenscheinnahme empört als nicht verständlich in sein Regal befördert.
Als Bertie Wooster eine Buchhandlung aufsucht, um für seinen Diener Jeeves die kürzlich erschienene, mustergültig kommentierte Werkausgabe Spinozas zu kaufen, wird er dabei von seiner Ex-Freundin Florence Craye überrascht, die es nicht fassen kann, daß sich ihr ehemaliger Verlobte plötzlich für einen Philosophen des 17. Jahrhunderts interessiert: »Bertie! Nicht zu fassen! Liest du tatsächlich Spinoza?« Bertram Wooster antwortet ihr: »Wenn ich einen Moment der Muße finde, versenke ich mich am liebsten in den neusten Spinoza«, worauf die Verflossene mit einem simplen »Ach!« reagiert und dann hinzufügt: »Wir müssen uns mal in Ruhe austauschen […] Ein Intellekt im Werden ist ja sooo faszinierend.« Bertie Wooster ist somit für Florence Craye wieder ein Heiratskandidat. Auch wenn das Lesen nicht das Hauptthema in Pelham G. Wodehouse’ Roman »Joy in the Morning« (1947, dt. »Ohne mich, Jeeves!«, 2002) ist, so zeigt die Episode aus dem Leben des reichen Müßiggängers Wooster doch recht gut, daß neben dem Lesen immer auch das Nichtlesen lebenswichtig sein kann.
Jenseits der Unterhaltungsliteratur, in der Wissenschaft, kommt es sogar sehr oft auf das Nichtlesen an: Am Anfang seiner Arbeit sammelt der Forscher Buchtitel, er bibliographiert. Dann nimmt er jeden aufgelisteten Titel in die Hand und entscheidet, welche Bücher und Aufsätze er ganz, welche er nur in Teilen oder welche er gar nicht liest. Hinzu kommt: »Bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben dieser Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnen eines Buches stets die entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappen sämtlicher Bücher.« (Pierre Bayard)
Wie der Wissenschaftler, so sucht auch jeder gebildete Leser Orientierung. Er will sich in Bibliotheken eher zurechtfinden und nicht angesichts tausender ungelesener Bücher in Ehrfurcht erstarren. Welcher Gebildete liest schon alle 88 Bände von Balzacs »La Comédie humaine« oder »Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d’une famille sous le Second Empire« von Émile Zola oder Marcel Prousts »À la recherche du temps perdu«? Leser von James Joyce’ »Ulysses« oder der Werke Arno Schmidts bleiben oft unter sich, sind vor allem Liebhaber, tauschen sich in der »Gesellschaft der Arno-Schmidt-Leser« aus und eignen sich gelegentlich für das Amt eines Akademiepräsidenten.
Der Gebildete darf dem Lesen nicht verfallen, oft muß er seiner Leseleidenschaft entsagen. Der Pariser Literaturprofessor und Psychoanalytiker Pierre Bayard zitiert in seinem Buch »Comment parler des livres que l’on n’a pas lus?« (2007) den Bibliothekar in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, der sich, zum Erstaunen seines Gastes Generals Stumm, unter Millionen Büchern zurechtfindet: »Herr General […] Sie wollen wissen, wieso ich jedes Buch kenne? Das kann ich Ihnen nun allerdings sagen: Weil ich keines lese!« Zuvor hatte der General sorgfältig ausgerechnet, wieviel Zeit er für seinen Plan benötigen werde, alle dreieinhalb Millionen Bücher der Bibliothek auch wirklich vollständig zu lesen. Letztlich erweist sich der professionelle Bibliothekar zugleich als der wahrer Buchliebhaber und nicht der Bibliotheksbenutzer. Der Bibliothekar übersieht keinen Band im Regal und bevorzugt oder vernachlässigt folglich auch keines seiner Bücher. »Wer seine Nase in die Bücher steckt, ist für die Kultur verloren, sogar für das Lesen«, resümiert Bayard, und fügt hinzu, daß wahre Bildung umfassend sei und kein Faktensammeln.
Pädagogen sprechen gerne von »Lesequalifikation« als Grundlage für »Medienkompetenz«. Als Ziel des Lesens formulieren sie die »Erziehung zum mündigen Medienbenutzer mit guten Chancen zur Partizipation am gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß« (H. Heidtmann). P. G. Wodehouse‘ Held Bertie Wooster hat dieses Klassenziel erreicht. Er ist ein beliebter Gastgeber und versteht es nach »kopflosen Taten« zumindest bis zum Eintreffen der königlichen Kavallerie, und die wird fast immer von seinem belesenen Diener Jeeves angeführt, über Wasser zu halten.
Auszug aus meinem Artikel »Erkenntnis schaffen: Lesen«, in: Michael Maaser/Gerrit Walther (Hrsg.): Bildung. Ziele und Formen, Traditionen und Systeme, Medien und Akteure XV, 456 S., 2 s/w Abb., 3 Tabellen, gebunden, Stuttgart (Verlag J. B. Metzler) 2011, aktuell dritte Auflage im Springer Verlag, 27,99 € (ISBN 978-3-476-02098-7)
Abbildung: Bücher im Regal der Bibliothek Friedrich Schillers in Weimar